Die Techno-Pioniere von Kraftwerk gastierten am vergangenen Dienstagabend bei den jazzopen Stuttgart – trotz regnerischem Wetter schien die Freude der 7.200 Zuschauer:innen größer als die impossante LED-Präsentation auf gleich drei Screens der rheinländischen Band. Unsere Eindrücke vor, während und nach des ausverkauften Konzerts.
„Kraftwerk spricht für sich.“, meint Markus lange vor dem Beginn des Auftritts zu mir. In bestem Badener Tempre erzählt er mir lebendig, dass er die Elektropopband heute das zehnte Mal live sehen wird. Erstaunlich, da die Band weltweit mehr Auftritte als hierzulande absolviert. Markus folgte ihnen sogar bis nach London in die altehrwürdige Royal Albert Hall. An diesem gräulichem Dienstagnachmittag zog sich der Einlass etwas, mehrere Schlangen bildeten sich. Einige Besucher:innen suchten mit Strohhüten und Plastikmänteln Schutz vor den unbarmherzig prasselnden Schauern. Dann, endlich, gegen halb Neun geht’s los. Einige Zuschauer:innen suchen im ausverkauften Innenhof des Neuen Schlosses ihre Plätze, andere noch die minimale Lücke im angewachsenen Haufen als sich die ersten sphärischen Klänge entfalten. Sie erinnern an Walgesänge, verweilen in der Luft, verdichten sich, bis ein wiederholter Countdown in grünen LED-Zahlen allmählich eine eigene Melodie formt. Das Publikum lauscht begierig.
Ferngesteuerte Melodien
Wie ferngesteuert betreten die vier Musiker – Ralf Hütter, Henning Schmitz, Falk Grieffenhagen und Georg Bongartz – nacheinander die minimalistisch eingerichtete Bühne. Ihre schwarzen Anzüge mit weißen Linien glimmen unter LED-Spots, die synchron zur Musik frech aufblitzen. Vor ihnen vier silberne Pulte auf einem erhöhten Podest, darunter eine Leiste, die Zahlen, Formen mal auch Farben zeigt. Der erste elektronische Impuls erklingt: „Nummern“, gefolgt von „Computerwelt“, „Computerwelt 2“, „Heimcomputer“ und „It’s More Fun to Compute“. Der Innenraum hört aufmerksam zu, beinahe ehrfürchtig. Nur gelegentlich heben die Mitglieder den Blick von ihren Pulten.

Die Klangarchitektur bleibt meist kühl und präzise. „Spacelab“ öffnet das Klanguniversum weiter, in „Ätherwellen“ oszillieren Frequenzen wie fremde Botschaften aus unbekannten Universen. Der Abend bleibt sparsam im Ausdruck – quasi Techno der nerdigen Art, durchsetzt von kaum verständlichen Wortfetzen. Die Zuschauer nicken mit, lassen sich mitunter regelrecht durch Beats treiben.
Mit „The Man-Machine“ zieht zum ersten Mal etwas von roboterhafter Pop-Energie auf. Dann ein Hauch von Wärme: „Electric Café“ (später in „Techno Pop“ umbenannt) mit seinen helleren Tönen bringt das Publikum in Bewegung. Der Bass dröhnt dabei körperlich spürbar – besonders bei „Maschine Brennt“, dessen dunkle, treibende Struktur den Brustkorb wahrlich vibrieren lässt. Wie vom Takt getrieben, treten die Musiker den Beat mit den Füßen unter ihren pulsierend leuchtenden Pulten.
Jubel auf der Autobahn
Der große Moment des Abends: „Autobahn“. Das Publikum jubelt, viele filmen, nicht wenige singen mit. Der konventionellste, aber wohl beliebteste Song entfaltet sich vor einem illuminierten Himmel, dessen wolkiges Grau wie ein Ölgemälde über Stuttgart liegt. Danach folgt der Klassiker „Computerliebe“, rosarot ausgeleuchtet, kitschfrei inszeniert, beinahe zärtlich. Darauf das gar monotone wie legendäre „Das Model“ – nach wie vor ein wunderbarer Evergreen. Ein elektrisches Streicher-Arrangement sorgt mitunter für frenetischen Applaus, der sich aber rasch im nächsten Sound verliert.

Kraftwerk lassen jedoch stoisch keine Pause zu. Mit „Neonlicht“ wechseln die Farben in pastelliges Blaugrün, bevor „Geigerzähler“ die musikalische Radioaktivität einleitet. „Radioaktivität“ selbst schrillt über den Platz – gelbes Licht, schrille Töne, die verstummen lassen. Genauso wie die Musik schwillt unentwegt auch die Stimmung im Zuschauerraum an – gerade das feuerrot ausgestaltete Atomsymbol ist so zeitgeistig wie lange nicht. Danach ein auflockernder Bruch: „Tour de France“ bringt rhythmische Leichtigkeit zurück, unterlegt mit alten Schwarz-Weiß-Videoclips der Tour vergangener Jahrzehnte. Dazu folgt „La Forme“, weniger bekannt, aber hypnotisch.
Der Sound wird härter. Mit „Trans-Europa Express“ (TEE), „Metall auf Metall“ und „Abzug“ wechselt das Set ins industrielle Spektrum: kalt, dröhnend, ohne Vocals. Das Publikum ist nun vollständig im Takt. Zu „Planet der Visionen“ flackert die Bühne in metallischem Licht – ein kleiner Höhepunkt visueller Abstraktion. Das Publikum alterstechnisch gut durchmischt. Vom Fan der ersten Stunde über interessierte Entdecker bis hin zu Kindern war es ein großes Generationenfest, die das 1970 entstandene Kraftwerk hier versammelte.
Das Finale beginnt mit „Boing Boom Tschak“, einer rhythmischen Dekonstruktion, die in „Techno Pop“ und „Musique Non Stop“ übergeht. In der nächtlichten Dunkelheit leuchten die Anzüge der Musiker beinahe von selbst. Die vier gönnen sich keine verabschiedende Geste, wortlos schreiten sie nach und nach von der Bühne. Um 22:20 Uhr endet das Set. Doch das Publikum wartet, klatscht, johlt – und bekommt schließlich ihre Zugabe: „Die Roboter“. Vier bewegungslose Silhouetten, die in ihren Anzügen selbst wie Maschinen wirken, beenden den Abend unter kühlem grünem Licht. Gründungsmitglied Ralf Hütter verabschiedet sich höflich: „Gute Nacht und auf Wiedersehen!“ Kraftwerk verlassen die Bühne, wie sie sie betreten haben: stoisch, diszipliniert, vollkommen in ihrer Klangwelt versunken.
Weitere Termine der jazzopen Stuttgart 2025:
Do., 10. Juli – Joe Bonamassa, Kenny Wayne Shepherd & Bobby Rush
Fr., 11. Juli – Jean‑Michel Jarre
Sa., 12. Juli – Mario Biondi & Zucchero
So., 13. Juli – José James & Lionel Richie
Tickets & Infos unter www.jazzopen.com
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