Der britische nichtbinäre Künstler Sam Smith debütierte am gestrigen Freitagabend auf den jazzopen Stuttgart – seine lässig-frivole Show ließ den brechend vollen Innenhof des Neuen Schlosses schlicht erbeben. Dank mehrerer Outfitwechsel inklusive einer wunderbaren offenen Atmosphäre flogen dem „Stay With Me“-Interpreten sofort alle Herzen des Stuttgarter Publikums zu. Im Vorfeld konnte bereits die Londonerin Sängerin Konyikeh überzeugen. Unsere Eindrücke vom berauschenden Konzertabend.
Stuttgart – Reges Treiben peitscht die Stimmung auf dem Schlossplatz in Stuttgart an. Neben schattigen Plätzen unterhalb der größeren Baumkronen entlang der Alleen, genießen die Besucher:innen der jazzopen Stuttgart 2024 ihre kühlen Longdrinks, tratschen in bestem Sinne über vergangene Erlebnisse oder dokumentieren via Smartphone diesen besonderen Abend. Nach den gelungenen Gastspielen von Herbert Grönemeyer mit den Philharmonikern sowie dem ewig coolen Lenny Kravitz wird die gern bespielte große Bühne des Festivals heute Abend ein frisches Erlebnis erfahren – Sam Smith. Wie vorfreudig das erschienene Publikum des nahezu ausverkauften Konzerts ist, lässt sich bereits im Innenhof des Neuen Schlosses begutachten, wo die mehrheitlich jüngeren Besucher:innen begierig in mehreren Reihen vor den Wellenbrechen stehen. Manche mit selbstgestalteten Plakaten, einige einen Tick markanter geschminkt, nur für einen Blick von Sam.
Warme 27 Grad, dazu eine entspannte Atmosphäre lässt die Leute noch einen Tick länger an den gut besuchten Gastro-Angeboten verweilen. Dennoch schreitet pünktlich die Newcomerin Konyikeh auf die Bühne. Die in London geborene und in Essex aufgewachsene Singer-Songwriterin mit kamerunischem und jamaikanischem Wurzeln setzt nicht auf multiinstrumentale Songs sondern auf ihren schweigsamen jedoch mit flinken Fingern ausgestatteten Gitarristen und eine kraftvolle aber ungemein samtene Stimme ohnegleichen. Mitunter faszinierend wie schnell eine große Gruppe von Menschen innehalten und eine 23 jährigen Frau im weißen Pullover lauschen, welche melodisch von vergangene Lieben und späten Entscheidungen singt. In Konyikeh strotzt eine ungemein einnehmende Aura ohne auf ablenkende visuelle Effekte zu setzen. Im Zuschauerraum wird’s hingegen stetig voller, der Headliner kündigt sich an. Kurz vor Beginn fällt der sprichwörtliche Vorhang und eine Goldstatue erscheint. Sie erlebte schon bessere Tage, das glitzende Edelmetall ist verblasst, Graffiti überzieht den liegenden Körper, der sich über die gesamte Bühne zieht, welcher neckisch den Hintern nach oben entgegenstreckt. Darauf Botschaften zu lesen wie „Protect Trans Kids“ oder auch „Liberation“. Sam Smith setzt Statements. Ob mit seiner Bühnenpräsenz, in dem er mit seiner ungemein sympathischen Art gefühlt ganz Stuttgart umarmen will oder dem Wunsch nach Befreiung jeglicher Couleur, in dem man sein UND lieben darf wen man möchte. Mit zustimmendem Applaus quittieren jenen gelebten Aktivismus die Besucher:innen.
Musikalische Freiheiten
Wie uns einige im Vorfeld verrieten, kannten Sie den britischen Künstler bisher nur aus dem Radio, wo seine ruhigen Kuschelsongs „Stay With Me“ und „Like I Can“ die Hot-Rotation vieler Stationen bestimmen. Andrea aus Weil der Stadt meinte euphorisch: „Auf dieses Konzert warte ich seit Jahren!“ Zum großen Gefallen vieler fing der 1992 geborene Musiker auch pünktlich um halb Neun mit ebenjenen Gassenhauern an, zuvor gab es ein roughes Intro, das aus seinen sechs Tänzer:innen bestand, die knallrote rauchende Bengalos hielten. Vielleicht ein Hinweis auf den Temperaturwechsel für die 2. Hälfte? Dann erscheint Headliner Sam Smith auf der Bühne – im schicken Mehrteiler ganz in Schwarz. Mit glitzerndem Schulterstück. Sein rotbrauner Vollbart schimmert keck im Scheinwerferlicht. Jene Fasern wirbeln wie er selbst wild über die Bühne, sobald die schnellere Nummer „Diamonds“ erklingt oder beruhigen sich während einer wirklich auf den Punkt gespielten akustischen Version von „Too Good at Goodbyes“ per Unterstützung seiner Background-Sänger:innen und Gitarristen. Rund 7.200 Menschen reagieren nun mit großer Freude auf jeden Blickkontakt, Gruß oder verstohlene Geste ihres auftretenden Künstlers, die Stimmung kocht. Smith macht keinen Hehl aus seiner nichtbinären Geschlechtsidentität. Vielmehr eröffnet es ihm Möglichkeiten. So trägt er Plataeu-Schuhe mit höheren Absätzen mit herrlich auffallenden Ohrringen. Kurz vor „Good Thing“ verschwindet er kurz nur um mit einem prächtigen Abendkleid, quasi als düstere Märchen-Prinzessin, zurückzukehren. Er ruft freudig „Look at my dress!“, die Besucher:innen reagieren johlend. Neben Danksagungen für den Support in vergangenen Jahren, weist der vierfache Grammy-Gewinner auf das 10 jährige Jubiläum seines ersten Albums (In the Lonely Hour) hin.
Regelmäßig schickt er Liebesbekundungen in Form von per Hand geformte Herzen in die Menge. Langsam verzieht sich der helllichte Tag, die sanfte Dämmerung bricht an und die Bühnenshow von Sam Smith wird zunehmend aufreizender. Nach pompösen Balladen folgen erotisch aufgeladene Dancetracks mit unmissverständlichen Posen. Der eingelassene Theaternebel in Verbindung mit roten LED-Strahlern schafft hier eine betörende Atmosphäre. Seine wenig bekleideten Background-Tänzer:innen führen wollüstige Bewegungen aus, dank der deftigeren Beats, wie sie auch dem Berliner Technoclub „Berghain“ entstammen können, springen sogar die sitzenden Tribünen-Zuschauer:innen auf! Passend hierzu legt Smith mit „Desire“ den Klangteppich aus. Der vorletzte Outfitwechsel wartet. Farbenprächtig trägt Sam jetzt einen voluminösen Rüschenmantel mit nahezu jeder Farbe aus dem Spektrum währenddessen vollführen seine ebenfalls modisch frisch ausgestatteten Tänzer:innen in bester „Cirque de Soleil“-Manier akrobatische Einlagen. Als würde der Weltstar auf die ohnehin beschwingte Atmosphäre reagieren, schickt er mit dem Discoklassiker „I Feel Love“ einen kleinen Gruß nach oben zu Donna Summer.
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Zum Abschluss wird’s nochmal düster, gar kirchlich. Nach dem wunderbar orchestralen „Gloria“, das sozusagen als Intro diente, besingt Sith im engen Korsett unheiliges Verhalten. Waren während des Konzert überraschenderweise kaum bis keine filmende Handys auszumachen, zückten alle spätestens bei „Unholy“ es. Da der Song im Original eine Zusammenarbeit zwischen Smith und der Bonnerin Kim Petras ist, wurde sie stylisch auf die Screens zugeschaltet und ließ mit „Fucking Slut Pop“ keinen Zweifel an der Intension. Danach, kurz vor 10, war Schluss. Sam Smith unterstrich mit seinem Konzert den angesprochenen „Beyond“-Gedanken der jazzopen nochmals deutlich, er machte eine Show, die man im besten Sinne nicht so schnell vergessen wird.
Zu unserem Themenschwerpunkt „jazzopen 2024“.
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