Filmkritik zu „Napoleon“ – Toxisches Feldherr-Spektakel von Ridley Scott
Bundesweiter Kinostart: 23. November 2023
Hört man Ridley Scott und historisches Monumentalkino ist die Sache eigentlich geritzt: Gute Kino-Unterhaltung steht bevor. Neben brachialen Schlachtsequenzen, wo die Leinwand kaum groß genug sein kann, verkörpert Joaquin Phoenix den korsischen Feldherren zwar interessant introvertiert, aber der Handlungfaden bringt das Gesamtwerk doch in Schlingern. Wir schauten „Napoleon“ auf der größten IMAX-Leinwand der Welt und sagen euch in unserer, ob sich der Film lohnt.
Napoleon Bonaparte. Rein anatomisch betrachtet nicht der größte Feldherr, jedoch mit überdimensionalem Ego ausgestattet. Seine mit eiskalter Präzision geplanten Feldzüge, die eigenwillige Liebe zur späteren Kaiserin Josephine und der machtgierige Wunsch sich bis in die höchsten Kreise hochzuarbeiten – alleine diese Details entsprechen sozusagen den Qualifikationen für jene Verfilmung mit historischem Kontext. Nach Christian Clavier darf nun „Joker“-Darsteller Joaquin Phoenix den korsischen Feldherrn verkörpern und tut dies auf zurückhaltende, in erster Stunde, gar eingedöster Art. War Napoleon so? Wir wissen erst nicht. Erst im Verlaufe der Geschichte, die sich vom abeschlagenen Kopf Marie Antoinettes von der französischen Revolution 1789 bis zu Bonapartes Exil auf St. Helena erstreckt, taut Phoenix sprichwörtlich auf. Da gibt es zum einen die toxische Beziehung zur Kriegswitwe Josephine Beauharnais, welche er ehelicht um dann einen (natürlich) männlichen Thronfolger zu zeugen, was nach Jahren nicht klappt. All diese Beziehungsstationen sind zwar mit 200 Millionen Dollar Budget opulent in riesigen Palästen oder fein ausgestatteten Räumen präsentiert, bleiben oftmals vage Behauptung. Richtige Liebe, wenn auch zeitweise toxischer Natur, da sich beide gegenseitig offen betrügen, wird nur angesprochen. Zumindest stimmt die Chemie zwischen Phoenix und Vanessa Kirby bemerkenswert. Regisseur Scott lässt in ihren Gesprächen lange Blickkontakte zu, elektrisierende Stimmung im Saal.
Zumal in der ersten Hälfte die politischen Geschicke innerhalb der französischen Republikum zum Tragen kommen, wie der Fall des aufständischen Revolutionärs Robespierre. Trotz optischen Inserts der Namen samt Stellung beim allerersten Auftreten jeder Figur verliert man im Laufe den Überblick – was uns unweigerlich zur Handlung führt. Die Präsentation ist herausragend, aber Ridley Scott gelingt nur selten die Intensität einer Schlacht bei Toulon wo drastische Bilder die blutigen Grauen solcher Kämpfe offen gezeigt werden, herzustellen. Merkwürdig zudem, dass der überlieferte Charme von Bonaparte durch seine Reden an die Soldaten im Film erst zu „Waterloo“ Präsenz finden. Dies könnte an fehlenden Puzzleteilen liegen. „Napoleon“ ist in Zusammenarbeit mit Apple entstanden und so entschuldigte sich Ridley Scott fast schon für die kürzere Kinofassung, die geplante Endfassung läuft nämlich starke vier Stunden und 10 Minuten. Die verwirrende Handlung entschuldigen zum Glück die herausragend dreckige Optik aus den Schlachten, teilweise kreativ unter Wasser gefilmt, veranschaulicht dieser Film warum es IMAX-Lichtspielhäuser gibt. Zwar finden sich keine nativen IMAX-Bilder, aber in der Melange aus gut balanciertem Sounddesign, bei der das Publikum Kanonenschüsse gar selbst spürt und übersichtlichen Schlachtszenen samt abertausenden Soldaten, brilliert „Napoleon“. Bei allem historischem Kontext verbundenen blutigen Einschüssen, geköpften Royalisten oder erschlagenen Pferden verwirrt die FSK-Freigabe ab 12 Jahren. Anders getrachtet, ist dies handfester Geschichtsunterricht.
Napoleon. USA 2023. Verleih: Sony. Regie: Ridley Scott. Mit Joaquin Phoenix, Vanessa Kirby, Rupert Everett. Genre: Drama / Historie. 158 Minuten. FSK: Ab 12 Jahren.
Gibt es eine Post-Credit-Szene? = Nein.
Vielen Dank an den Traumpalast (IMAX) Leonberg für die freundliche Bereitstellung des Tickets. Kinotickets für „Napoleon“ gibt es hier.